Der ewige 17jährige – Oder:
Als die dpa uns leimen wollte
In mehr als 50 Jahren als Volontär, Redakteur oder Freiberufler mit dem und für den 150jährigen Trierischen Volksfreund habe ich natürlich auch etliche sogenannte „historische“ Ereignisse selbst miterlebt. Dinge, die wir dann aktuell, schnell oder großflächig noch in der nächstmöglichen Ausgabe unterbringen mussten. Die Mondlandung am 21. Juli 1969 habe ich noch nicht erlebt, die ereignete sich tatsächlich zwei Jahre vor meinem Eintritt als „Volo“. Aber den Fall der Mauer am 09. November 1989 habe ich am Ticker wie am Fernseher mit größter Spannung verfolgt. „Nine-Eleven“, also den fürchterlichen Anschlag auf das World Trade Center 2001, nicht. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich auf dem ersten von zwei Pressetagen der Internationalen Automobilausstellung (IAA) in Frankfurt. Mein aktueller Text hatte da auf einmal verständlicherweise keinerlei Relevanz und Bedeutung mehr.
Aber ein anderes Datum, das sich das wehende Mäntelchen der Geschichte umhängte, ist mir noch sehr gut in Erinnerung. Es wiederholt sich am kommenden Montag zum 40. Mal. Es geht also um den 07. Juli 1985. Ein Sonntag, dessen Ablauf in unserem Büro im zweiten Stock des Verlagshauses am Nikolaus-Kochplatz, ich immer noch vor Augen habe, als sei es gestern gewesen. Es war ein Tag, an dem unsere Sportredaktion zum Taubenschlag mutierte. Alle paar Minuten, ja sogar Sekunden, rein, raus. Rein, raus. Kopf rein, Hals rüber zum Fernseher. Die Bude brechend voll. Weil ja jeder auch irgendwas zu tun hatte an diesem Tag. Es galt ja immerhin, die Montagausgabe fertig zu machen. Aber so ab und zu oben im Sport mal gucken, das ging irgendwie. Wortfetzen wechselten sich ab: „Wie steht et dann?“ „Is et schon rumm?“ „Spillen se noch?“ „Kann moal äänen runner kommen, unn üwer die letzt‘ Seit“ gucken?
Was also trug sich zu an diesem denkwürdigen Datum? Es war der Tag, als ein 17jähriger aus der badischen Kleinstadt Leimen, so blond und germanisch als habe man ihn dergestalt in Auftrag gegeben, Groß und Klein, Männlein wie Weiblein, vor dem Tennis-Bildschirm einte. Um schweißgebadet vor Aufregung mit zu zittern, was sich da Unglaubliches auf dem Grün des heiligen Rasens von Wimbledon tat. Es war der Sonntag, an dem das Tennisspiel domestiziert wurde. Als das Spiel mit dem gelben Filzball den elitären Schichten der Gottfried-von-Cramm-Gedenkenden, den Bungert- und Kuhnke-Bewunderern, entrissen wurde. Als sich die Bewahrer des sportlichen Standesdünkels fortan auf Cricket, Polo oder Ähnliches zurückziehen mussten.
Die Partie zwischen dem deutschen Qualifikanten und ungesetzten Boris Becker und seinem südafrikanischen Widersacher Kevin Curren um die Krone des Tennissports auf dem „heiligen Rasen“ von Wimbledon hatte um 15 Uhr GMT (Greenwich Mean Time) begonnen. Also eine Stunde vor unserer Zeitrechnung. Bei uns war es da schon 16 Uhr. Und weil wir in Zeitzonen rechneten, die sich um das Abmelden von Seiten und den Druckbeginn drehten, war uns das gar nicht so recht. Denn beim Tennis ist es bekanntermaßen ja nicht wie beim Fußball, wo in der Regel nach 90 Minuten und einem bisschen Nachspielzeit, alles rum ist. Beginn des Finales Becker gegen Curren also um 16 Uhr.
Satz eins an Becker: 6:3. Satz zwei in den Tiebreak. 7:6 für Curren. Also alles auf Anfang. Und die Zeit lief. Satz drei wieder Tiebreak. Dieses Mal mit dem besseren Ende für den deutschen Jüngling. 2:1 für Becker also. Vierter Satz. Das könnte schon der letzte sein. Hoffentlich. Mir war eigentlich ziemlich egal, wer diesen Pott gewinnen würde, es ging mir allein darum, das alles für Montags noch ein zu tüten. Mit entsprechendem Bildmaterial natürlich. Das Ende ist bekannt: „Bumm-Bumm-Boris“, den es zwei Wochen vorher noch gar nicht gegeben hatte, verwandelte seinen ersten Matchball. Es war 17.26 Uhr.
„So, alle raus jetzt, wir müssen schaffen.“ Als die Partie rum war, scheuchte ich alle aus dem Büro. Auch die Kollegen aus der Mettage, die gerade Pause machen wollten, trollten sich wieder von dannen. Die meisten von Ihnen hatten sich zuvor nie oder zumindest kaum für Tennis interessiert, noch kannten sie die Regeln. Aber da alle rauf in den Sport zum gucken gingen, ging man halt mit. Es war einer jener Tage, an die man sich Jahre und Jahrzehnte später noch erinnerte. Den Plan für die Seite 1 hatten wir natürlich vorher schon gemacht. Aufmacher Wimbledon, war klar. Der erste deutsche Sieger, der Jüngste, der erste Ungesetzte. Da kam nix drüber. Auf den Fuß noch der im Juli unvermeidliche Tour-de-France-Dreispalter. Bernard Hinault, „le blaireau“, („der Dachs“), hatte sie gewonnen. Nebensache an diesem Tag.
Wir warteten darauf, dass der Ticker den Bericht ausspuckte. dpa oder sid. Eine von den beiden großen Agenturen. Das episch lange Stück ließ dann auch nicht lange auf sich warten. Aber was war mit Bildern? Schwarz-Weiß natürlich noch alles. Es kam und kam nix. Alles Mögliche spuckte der Bildfunk aus. Nur nix aus Wimbledon. Da war es schon nach acht Uhr. Und von unten aus der Mettage rief Kollege Ludwig Brückner an: „Charly, wann können wir denn die Sport 1 zumachen? Die Seite muss weg.“ „Ich weiß, ich wir warten noch auf das Bild.“
Kollege Roland Morgen, inzwischen im Rentner-Status, damals Volontär in der Sportredaktion, entpuppte sich schon damals als Großmeister des gekonnten, aber auch gewagten und mitunter überflüssigen Wortspiels: „Weißt Du, warum die dpa noch kein Bild geschickt hat? Die wollen uns leimen!“ „Roland, ich hab jetzt keinen Bock auf Deine Scherzchen“. Irgendwie ging dann doch noch alles gut. Das Bild, auf dem der 17jährige diesen blöden Pott küsst, kam dann doch noch rechtzeitig. Wir hatten die Seite rechtzeitig zu. „Ludwig, die 1 kann weg zum Belichten.“
Das Historische an diesem Tag wurde uns allen erst Tage später bewusst. Als der redaktionelle Druck des fertig werden müssens raus war. Da begriff auch ich, dass dieser junge Mann an diesem Tag das Land verändert hatte. Ganz Deutschland hatte plötzlich einen neuen Liebling. Einen neuen Namen. Einen neuen Alltagsbegriff: „Bumm-Bumm-Becker.“ Etwas, womit jeder halbwegs Sport-Interessierte etwas an zu fangen wusste und sofort erkannte, um was es ging. Ungefähr so wie „aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen…“
Deutschlands Tennis-Vereine erlebten einen ungeheuren Mitglieder-Zulauf. Kreuzbrave Damen, ansonsten (fast) nur auf das Heil ihrer Familien besorgt, stöberten plötzlich den Neckermann- oder Quelle-Katalog nach den angesagtesten Trends bei Tennis-Couture durch und träumten vom Centrecourt. Und Herren, die sich in der Regel eher um die exakte Definition des Begriffes „abseits“ bemühten, kämpften sich auf einmal in Zeitungen und Lexika durch verbale Ungetüme: Longline, Cross, Vorhand, Rückhand, break, Re-break und Lob. Und wussten am Ende, dass ein Dreisatz-Sieg nicht unbedingt etwas über Grammatik oder Rechtschreibung aussagte.
Alles eine Folge dieses einen Tages: Des 7. Juli 1985. Auch in der Sportredaktion des Trierischen Volksfreunds am Nikolaus-Koch-Platz.
