Folge 3: Doc Schulte, oder: Hamlet und Herr Ata Lameck
Dass der VfL Bochum am vergangenen Wochenende zum siebten Mal aus der Fußball-Bundesliga abgestiegen ist, das ist längst eher ein liebgewonnenes Ritual als ein sportlicher Paukenschlag. Und doch ruft mir dieser Umstand, der inzwischen über den Status einer Fünfzeilen-Meldung kaum noch hinaus kommt, einen ganz besonderen Kollegen wieder ins Gedächtnis. Einen Mann mit humanistischer Bildung, feinsinnigem Humor, den kleinen Achtsamkeiten des Lebens aber dennoch immer zugewandt. Doch von Beginn an:
Tageszeitungs-Redaktionen waren in den 1970er Jahren, und sind es zudem in einigen Blättern auch heute noch, in klassische Ressorts unterteilt: Da gab es die Politik, die Wirtschaft, das Lokale, das Vermischte, den Sport, die Leserbriefe. Dazu die Wochenend-Seiten mit Themen wie Reise, Garten, Gesundheit, Auto, den Fortsetzungs-Roman und das Kreuzworträtsel. Und es gab, nicht zu vergessen, für jedes Blatt, das etwas auf sich hielt, die Kultur. Oder, was natürlich linguistisch einen viel besseren Eindruck hinterließ, das Feuilleton.
Das war natürlich beim Trierischen Volksfreund nicht anders. Ganz hinten rechts auf dem langen Flur in der zweiten Etage, die vorletzte Tür vor dem Nachrichtenraum mit den Fernschreib-Tickern, auf denen es unaufhörlich rasselte, das war der Eingang zum Büro des Kollegen Hans-Ludwig Schulte. Genauer gesagt Dr. phil. Hans-Ludwig Schulte. Oder einfach nur „Doc“, wie wir Volontäre und Jungredakteure ihn nannten. Der Titel, eine Mischung aus Respekt, Kollegialität und doch mit qua Amt und Funktion gebotenem Abstand. Der „Doc“ war der einzige im Haus, der promoviert hatte, das aber nie wie ein Mantra vor sich hertrug.
Neben dem Feuilleton befand sich der Sport, und das brachte es mit sich, dass ich öfter mal drüben „in der Kultur“ saß. Denn Schulte bearbeitete auch die täglichen Fernseh-Kritiken, für die man sich anbieten konnte. Und da mir nichts mehr zuwider war als redaktionelle Betriebsblindheit und gedankliche Einbahnstraßen, war ich ein eifriger Kolumnist der TV-Fernsehkritiken. Da ging es um alles, aber niemals um Sport. Dieser Umstand führte dazu, dass ich mit meinem Manuskript der Fernsehkritik, nach höflichem Anklopfen versteht sich, bei Schulte ins Büro trat und meine Perlen der Weisheit auf seinen wuchtigen, schweren Schreibtisch legte. „Ah. Herr Braun. Wieder eine Fernsehkritik? Schön. Was haben wir denn heute?“
In Schultes Refugium mit den schweren, mit Bleiglasfenstern versehenen, Schränken, fühlte ich mich wohl. Hierhin verirrte sich kaum mal jemand. Das war kein Büro, das war eine Bibliothek. Schwere literarische Schätze. In Schweinsleder teilweise gebunden, kaum Taschenbücher. Ab und zu mal noch irgendwo ein Reclam-Heftchen. Schulte und ich, das merkten wir bald, wir „konnten“ miteinander. Unsere Gespräche, Schulte sprach distinguiert, leise, aber vernehmlich, schlossen nichts aus, was diese Welt bewegte. Sein Angebot, „Wenn ich nicht da bin, können Sie ruhig zugreifen“, öffnete mir den Weg zu mancher Mittagspause, in der ich mich in Schultes literarische Kostbarkeiten vertiefte.
Die Verleger-Familie Nikolaus Koch war nicht nur ein großer Freund, sondern auch ein ebensolcher Gönner des Trierer Stadttheaters. Was zur Folge hatte, dass „der Alte“, bei allem Respekt Herr Verleger Nikolaus Koch, Schulte mal wieder runter zu sich bestellte und die Uraufführung vom Abend zuvor mit diesem durchkaute. Da konnte schon mal eine Stunde und mehr vergehen, und ich hatte, wenn keine Post da war für den Sport, mich bei Schulte umsehen können. Der „Doc“ war Pfeifenraucher. Schnöde Kippen, womöglich noch Landewyck Silber selbst gedreht, nein, das hätte nicht zu seinem Habitus gepasst. Seine Utensilien lagen stets griffbereit neben der Schreibmaschine auf seinem eichenen Sekretär. Und ich erinnere mich heute noch, obwohl Nichtraucher, mit Wohlbehagen an den schweren süßlichen Geruch in dieser stillen Oase. Und an den Slogan einer der bekanntesten Pfeifentabake damals: „Drei Dinge braucht der Mann: Feuer, Pfeife, Stanwell.“
Schulte war aber, als Westfale eigentlich unumgänglich, dem Fußballverein VfL Bochum, sagen wir mal, etwas zugetan. Freundlich gesonnen träfe es auch. Nicht dass, ich ihn als Fan bezeichnen würde. Mit offenbar unvermeidlichen Auswüchsen wie dem gegenseitigen Beschießen der Anhänger mit Feuerwerkskörpern. Dem Basteln von überdimensionalen kindischen Choreographien in den Stehplatz-Kurven. Geschweige denn von verbalen Untaten in Internet-Foren, in denen der deutschen Muttersprache fortwährend fürchterliche Gewalt auf erniedrigende Weise angetan wird.
Ein wenig aber kannte der verkappte Fußballfreund im Dr. phil. sich dann doch aus mit der Materie. Namen der Bochumer Balltreter waren ihm zwar nicht so geläufig. Nur einen hatte er offenbar in sein Herz geschlossen. Michael mit Vorname, aber so kannte und nannte ihn kaum jemand. Und auch Doc Schulte befleißigte sich des fußballerischen Künstlernamens des Betreffenden. So geschah es denn, dass wir beim gedanklichen Austausch von der letzten „Hamlet“-Premiere des Trierer Stadttheaters zu, wie Schulte ihn höflich nannte, „Herrn Ata Lameck“ übergingen.
Was die Bochumer Kicker der 1970er Jahre mit ihren am Samstag in schöner Reihenfolge wieder abgestiegenen Enkeln verbindet, ist die Tatsache, dass sie schon seit jeher eine Interessensgemeinschaft zwischen den Welten, also zwischen erster und zweiter Fußball-Bundesliga, waren. Was wiederum bedeutete, dass sich der VfL aus der Heimatstadt unseres Feuilleton-Chefs meist am Ende der Tabelle wiederfand. Und was wiederum mich, den jungen Redaktions-Novizen, dazu veranlasste, eines Tages das Fernschreiber-Manuskript mit der Bundesliga-Tabelle mit Tesafilm an Schultes Büro-Tür zu kleben. Falsch herum, versteht sich. Versehen mit der Bemerkung: „Willst Du Bochum oben sehen, musst Du die Tabelle drehen.“
Dessen Antwort, typisch Schöngeist Hans-Ludwig Schulte, ließ nicht lange auf sich warten: Noch am gleichen Tag fand ich einen Zettel auf meinem Schreibtisch, versehen mit Schultes unverkennbarer Handschrift. Es war – ein Bibelvers. Ich fand nur die Bemerkung „Lukas 23,34“. Googeln ging nicht vor rund 50 Jahren, und so blieb mir nichts anderes übrig, als meinen Schulfreund Gerd, seines Zeichens Theologie-Student, im Elternhause an zu rufen. Die „Übersetzung“ war so wunderbar passend, kein bisschen verletzend und doch irgendwie gedanklich schmunzelnd unter dem runden Leder wohl gesonnenen Kollegen: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!
Das war Hans-Ludwig Schulte. Dr. phil und Kenner von „Herrn Ata Lameck.“ Wir haben ihn längst zu Grabe getragen. Doch manches Mal, wenn ich das Schulte-Refugium mit seinem schweren ledernen Ohrensessel, den vollbepackten literarischen Schätzen an der Wand vor meinem geistigen Auge sehe, dann kommt es mir vor als wabere der süßliche Geruch zu mir herüber und es flüstere mir eine Stimme aus der Ferne zu: „Drei Dinge braucht der Mann: Feuer, Pfeife, Stanwell.“